05-09-2008, 11:57
BVerfG Aktenzeichen 1 BvR 311/0 vom 27.6.2008
Noch nicht vom BVerfG veröffentlicht, aber vom Anwalt der das Verfahren vertreten hat. Volltext: http://www.baltesundrixe.de/images/beschlussbverfg.pdf
Interessante Entscheidung, die für viele Fälle den Vorrang des Kindeswillens vor dem Kontinuitätsprinzip betont. Das Kontinuitätsprinzip ist schon vor vielen Jahren zum gerne missbrauchten Schwachsinn in der Rechtssprechnung verkommen um "Mutter hat immer Vorrang" durchzudrücken, das BVerfG setzt erstmals eine Grenze.
Die Situation: Mutter hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht, der Vater versucht vergeblich, einbezogen zu werden, Gutachten spricht dafür, aber die Gerichte nicht. Kind will seit Jahren zum Vater. Mutter zieht wieder einmal um (incl. Schulwechsel), Kind findet das schrecklich und will erst recht zum Vater. Jugendamt findet Umzug toll. OLG Braunschweig wollte das Kind bei der Mutter lassen - Kontinuität sei wichtiger als Kindeswille. Der übliche vordergründige Schwachsinn, weil es doch gerade die Mutter ist, die Kontinuität mit ihrer Umzieherei verhindert.
Doch diesmal: Einspruch vom BVerfG. Und zwar mit kräftigen Worten. Dem Oberlandesgericht Braunschweig wird attestiert, "eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und der dabei gebotenen Berücksichtung des kindlichen Willens" zugrunde zu legen. Das sitzt. Kling so ähnlich wie "Mathelehrer Müller hat eine grundsätzlich unrichtige Ansicht, was eine Addition überhaupt ist".
Was ist nun die richtige Anschauung? Das BVerfG gibt Nachhilfe. Der Wille des Kindes müsse hinreichend Berücksichtigung finden. Auch innere Bindungen zu einem Elternteil müssten in Sorgerechtsentscheidungen berücksichtigt werden. Der 11jährige habe über einen längeren Zeitraum zum Vater gewollt, das habe grosse Tragweite. Wenn das Kind nicht begründen könne, wieso es lieber beim Vater sein wolle, sei das keine Begründung, seinen Willen geringer zu schätzen. Das OLG würde einerseits Begründungen vom Kind verlangen, es aber andererseits als noch zu klein und wenig einsichtsfähig einschätzen, das ist ein Widerspruch. Einige weitere Annahmen des OLGs werden als unbegründet verworfen, der Volltext bieten einen reichen Textfundus für Anträge in eigenen Verfahren.
Das Urteil wird sich dafür verwenden lassen, den Kindeswillen im Grenzbereich zwischen 10 und 14 Jahren stärker zur Geltung kommen zu lassen. In diesem Altersbereich erwachte oft schon bei Trennngskindern der Wunsch nach einem Wechsel zum anderen Elternteil, vor allem wenn wie im vorliegenden Fall durch Umzüge sowieso keine Bindung an Ort und Schule aufgebaut werden konnte. Vor allem Väter sind trotzdem regelmässig vor Gericht gescheitert, ich kenne viele Entscheidungen wo in ziemlich schematischer Weise gegen einen Wechsel geurteilt wurde, obwohl das Kind dafür war. Vielleicht werden das nun ein paar weniger, wenn Väter entlang der BVerfG-Entscheidung argumentieren.
Nachtrag: Wo bleibt eigentlich die Pressemeldung, Artikel und überhaupt der Urteilstext des fast drei Monate alten Urteils auf den BVerfG-Seiten? Seltsame Zurückhaltung. Wo sind die Artikel "Verfassungsgericht stärkt Rechte der Kinder"? Ich glaube, da haben einige vor der eigenen Courage Angst bekommen. Weit weniger wichtige Entscheidungen wie die Schwafelei über Zwangsgelder gegen einen Vater, dessen neue Frau ihm den Umgang mit seinem Kinder aus früherer Beziehung verbietet wurden ausgiebig und am Tag des Entscheids öffentlich durchgenudelt.
Noch nicht vom BVerfG veröffentlicht, aber vom Anwalt der das Verfahren vertreten hat. Volltext: http://www.baltesundrixe.de/images/beschlussbverfg.pdf
Interessante Entscheidung, die für viele Fälle den Vorrang des Kindeswillens vor dem Kontinuitätsprinzip betont. Das Kontinuitätsprinzip ist schon vor vielen Jahren zum gerne missbrauchten Schwachsinn in der Rechtssprechnung verkommen um "Mutter hat immer Vorrang" durchzudrücken, das BVerfG setzt erstmals eine Grenze.
Die Situation: Mutter hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht, der Vater versucht vergeblich, einbezogen zu werden, Gutachten spricht dafür, aber die Gerichte nicht. Kind will seit Jahren zum Vater. Mutter zieht wieder einmal um (incl. Schulwechsel), Kind findet das schrecklich und will erst recht zum Vater. Jugendamt findet Umzug toll. OLG Braunschweig wollte das Kind bei der Mutter lassen - Kontinuität sei wichtiger als Kindeswille. Der übliche vordergründige Schwachsinn, weil es doch gerade die Mutter ist, die Kontinuität mit ihrer Umzieherei verhindert.
Doch diesmal: Einspruch vom BVerfG. Und zwar mit kräftigen Worten. Dem Oberlandesgericht Braunschweig wird attestiert, "eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und der dabei gebotenen Berücksichtung des kindlichen Willens" zugrunde zu legen. Das sitzt. Kling so ähnlich wie "Mathelehrer Müller hat eine grundsätzlich unrichtige Ansicht, was eine Addition überhaupt ist".
Was ist nun die richtige Anschauung? Das BVerfG gibt Nachhilfe. Der Wille des Kindes müsse hinreichend Berücksichtigung finden. Auch innere Bindungen zu einem Elternteil müssten in Sorgerechtsentscheidungen berücksichtigt werden. Der 11jährige habe über einen längeren Zeitraum zum Vater gewollt, das habe grosse Tragweite. Wenn das Kind nicht begründen könne, wieso es lieber beim Vater sein wolle, sei das keine Begründung, seinen Willen geringer zu schätzen. Das OLG würde einerseits Begründungen vom Kind verlangen, es aber andererseits als noch zu klein und wenig einsichtsfähig einschätzen, das ist ein Widerspruch. Einige weitere Annahmen des OLGs werden als unbegründet verworfen, der Volltext bieten einen reichen Textfundus für Anträge in eigenen Verfahren.
Das Urteil wird sich dafür verwenden lassen, den Kindeswillen im Grenzbereich zwischen 10 und 14 Jahren stärker zur Geltung kommen zu lassen. In diesem Altersbereich erwachte oft schon bei Trennngskindern der Wunsch nach einem Wechsel zum anderen Elternteil, vor allem wenn wie im vorliegenden Fall durch Umzüge sowieso keine Bindung an Ort und Schule aufgebaut werden konnte. Vor allem Väter sind trotzdem regelmässig vor Gericht gescheitert, ich kenne viele Entscheidungen wo in ziemlich schematischer Weise gegen einen Wechsel geurteilt wurde, obwohl das Kind dafür war. Vielleicht werden das nun ein paar weniger, wenn Väter entlang der BVerfG-Entscheidung argumentieren.
Nachtrag: Wo bleibt eigentlich die Pressemeldung, Artikel und überhaupt der Urteilstext des fast drei Monate alten Urteils auf den BVerfG-Seiten? Seltsame Zurückhaltung. Wo sind die Artikel "Verfassungsgericht stärkt Rechte der Kinder"? Ich glaube, da haben einige vor der eigenen Courage Angst bekommen. Weit weniger wichtige Entscheidungen wie die Schwafelei über Zwangsgelder gegen einen Vater, dessen neue Frau ihm den Umgang mit seinem Kinder aus früherer Beziehung verbietet wurden ausgiebig und am Tag des Entscheids öffentlich durchgenudelt.