Wenn Familien auseinanderbrechen, sind finanzielle Nöte oft programmiert. Gerade bei Geringverdienern reicht das Geld dann hinten und vorne nicht mehr: weder für die Kinder, noch für sich selbst. Hier erzählt ein Betroffener vom brutalen Abstieg.
Norbert Rott gehört zu den Menschen, die man „späte Väter“ nennt. Demnächst wird er 61 Jahre alt, seine drei Söhne sind zwölf, 14 und 17 Jahre alt. Als er vor zwölf Jahren mit seiner damaligen Frau vom Ruhrgebiet nach Ostfriesland zog, war das Familienleben noch intakt. Sogar ein Haus konnten die Erzieherin und der Schulassistent sich für die Familie leisten.
Dann aber trennten sich die Eheleute – und für Rott begann das, was er rückblickend als Abstieg in die Armut bezeichnet.
Denn er ist das, was man im Unterhaltsrecht einen „Mangelfall“ nennt: Von seinen rund 2000 Euro netto bleibt ihm abzüglich von Selbstbehalt, berufsbedingten Ausgaben und den nötigen Medikamenten für seine chronische Krankheit trotz seines Vollzeitjobs nicht genug Einkommen übrig, um den Mindestunterhalt für die drei Teenager-Söhne zu bezahlen. Nach der von den Oberlandesgerichten erstellten
Düsseldorfer Tabelle, die als Richtschnur für den Unterhaltsbedarf dient, wären das 1266 Euro.
Schlimmer noch: Weil er vor knapp zehn Jahren ein baufälliges 90-Quadratmeter-Häuschen gekauft und hergerichtet hat, um ein Kinderzimmer für seine Söhne zu haben, muss Rott auch noch einen kleinen Kredit bedienen. Der aber übersteigt die Pauschale, die Unterhaltspflichtigen für ihre Wohnkosten zugebilligt wird, bei Weitem.
1160 Euro stehen berufstätigen Unterhaltspflichtigen als Selbstbehalt zu. Darin ist für Wohnkosten eine Warmmiete von 430 Euro vorgesehen. „Von dem Geld würde ich nicht einmal eine Einzimmerwohnung finden“, sagt Rott. „Ich möchte aber auch, dass meine Kinder ein Zimmer haben, wenn sie bei mir sind.“
Abzüglich des reduzierten Unterhalts, den er derzeit für die Kinder zahlt, und der laufenden Fixkosten blieben ihm derzeit gerade einmal 200 Euro für Essen und Leben, sagt Rott. Und jetzt fordert das Jugendamt auch noch Tausende Euro Unterhaltsvorschuss zurück, mit dem der Staat in die Bresche gesprungen ist, weil Rott das Geld für seine Söhne nicht aufbringen kann. Die erhöhten Aufwendungen für die Wohnung lässt das Amt nicht gelten.
„Wenn das durchkommt, muss ich das Häuschen verkaufen und mit meinen Kindern im Wohnwagen schlafen“, klagt der Schulassistent. Seine Altersvorsorge wäre dann perdu. „Das wiederum kann nicht das Ziel unseres Unterhaltsrechts sein, das eben keinen Rückgriff auf den Staat wünscht“, sagt seine Anwältin Maren Waruschewski.
Was Norbert Rott nicht in den Sinn will: Wäre er arbeitslos, stünde ihm nicht nur
der Hartz-IV-Regelsatz, sondern auch eine größere Wohnung zu, da er dann an den Umgangstagen in einer sogenannten temporären Bedarfsgemeinschaft mit seinen Kindern leben würde. 653 Euro für eine Wohnung plus 121 Euro Heizkosten stünden ihm dann zu, hat er herausgefunden. Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen Unterhaltsrecht und Sozialrecht verärgert ihn zutiefst.
„Ich hege eigentlich keinen Sozialneid“, sagt der 60-Jährige. „Aber es kann doch nicht sein, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten gehen, in Steuerklasse 1 sind und sich um ihre Kinder kümmern, schlechter gestellt werden als jemand, der gar nicht arbeiten geht.“
„Im wahrsten Sinn des Wortes bitterarm“
Beim Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (
ISUV) kennt man zahllose Fälle von Unterhaltspflichtigen, meist Väter, die unter den finanziellen Verpflichtungen drohen zusammenzubrechen. „Über der Hälfte von ihnen verdienen so schlecht, dass sie nach der Düsseldorfer Tabelle als Mangelfall gelten“, sagt Verbandssprecher Josef Linsler.
Bei zwei Kindern sei das bei einem Nettoeinkommen von weniger als 1900 Euro gegeben. „Das bedeutet, dass die Kinder nicht den vollständigen Mindestunterhalt bekommen und der Unterhaltspflichtige selbst auf den Selbstbehalt zurückgeworfen ist.“
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Die 1160 Euro, die er von seinem Nettoverdienst behalten dürfe, müssten für Wohnen, Essen, Kleidung, soziokulturelle Teilhabe und die Betreuung der Kinder reichen, sagt Linsler. „Das lässt sich mit 1160 Euro nicht stemmen. Wer nicht auf die Eltern oder die Großeltern zurückgreifen kann, ist im wahrsten Sinn des Wortes bitterarm.“
Während der Mindestunterhalt für Kinder seit 2008 um 40 Prozent gestiegen sei, habe sich der Selbstbehalt nur um 28 Prozent erhöht, merkt der Verband an. Vor allem die Wohnkostenpauschale von 430 Euro warm mache den Trennungseltern zu schaffen. „Die Mieten sind allgemein angestiegen, in den Städten geradezu explodiert“, sagt Linsler. In einigen Städten sei damit nicht einmal eine Single-Wohnung zu finanzieren. „Gerade wenn jemand mehrere Kinder hat und mitbetreut, braucht er eine größere Wohnung.“
Theoretisch könnten Unterhaltspflichtige zwar eine angemessene Wohnung einklagen. In der Praxis handelten die Gerichte allerdings ausgesprochen restriktiv. Der Verband spricht sich deshalb für eine Erhöhung der Wohnkostenpauschale auf 500 Euro aus.
Dass der Selbstbehalt oftmals nicht mehr zum Leben reicht, hat auch die Unterhaltskommission des Deutschen Familiengerichtstages in ihrer
jüngsten Stellungnahme vom Juni 2021 festgestellt. Sie regte an, den Satz auf 1230 Euro für Erwerbstätige und 1000 Euro für nicht Erwerbstätige anzuheben.
Zudem hält die Kommission die darin enthaltenen Sätze bei mehreren Kindern für zu hoch angesetzt: Schon jetzt reiche ein Einkommen von 1900 Euro nicht mehr aus, um zwei Kinder angemessen zu unterhalten, heißt es in der Stellungnahme. Wenn die Düsseldorfer Tabelle auch weiterhin als Maßstab für die Bemessung des Kindesunterhaltes gesellschaftlich akzeptiert werden solle, müsse sie grundlegend überarbeitet werden.
Dagegen wiederum protestierte der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV). „Unterm Strich bedeuten die Vorschläge der Kommission Kürzungen für unterhaltsberechtigte Kinder beim Unterhalt und mehr Mangelfälle“, sagte die Bundesvorsitzende Daniela Jaspers. Bereits jetzt sei der Kindesunterhalt systematisch zu niedrig. Letztlich sind die Oberlandesgerichte den Vorschlägen deshalb auch nicht gefolgt.
„De facto tun sich die Gerichte schwer damit“
Heinrich Schürmann war lange Sprecher des Familiengerichtstages. Der pensionierte Richter am Oberlandesgericht Oldenburg ist auch heute noch Mitglied der Unterhaltskommission. Ihm bereitet die zunehmende Verarmung der Trennungsfamilien Sorgen. Solange Eltern mit ihren Kindern zusammenlebten, hätten sie bei zu niedrigem Verdienst Anspruch auf Leistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag, sagt er WELT. Das Problem sei allerdings, dass diese Leistungen an das Vorhandensein von Kindern im Haushalt gebunden seien.
„Trennt sich die Familie und bleiben die Kinder bei der Mutter, hat der Vater kein Anrecht mehr darauf, sofern er mehr verdient als seinen Selbstbehalt. Zusätzlich muss er Unterhalt leisten. Das führt bis in die mittleren Einkommensgruppen hinein zu finanziellen Problemen.“
Ihn stört vor allem, dass die Gerichte sich strikt an die in der Düsseldorfer Tabelle festgehaltenen Pauschalen halten und nicht in jedem Einzelfall prüfen, ob die Wohnkosten angemessen berücksichtigt sind. „Die Pauschalbeträge sind Leitlinien, keine festen Vorgaben. Hat ein Vater regelmäßigen Umgang mit seinen Kindern, braucht er eine größere Wohnung, um sie angemessen unterbringen zu können. De facto tun sich die Gerichte aber schwer damit.“
Auch der Mehrbedarf für Essen und Freizeitbeschäftigungen, der fällig wird, wenn die Kinder beim Vater sind, werde regelmäßig nicht beachtet. „Im Sozialrecht wird dieser Mehrbedarf hingegen berücksichtigt: in Form der temporären Bedarfsgemeinschaft. Diese Logik muss für das Unterhaltsrecht auch gelten“, so Schürmann. „Es darf nicht sein, dass man als Sozialhilfe-Empfänger besser gestellt ist als jemand, der jeden Tag arbeiten geht.“
Im Grunde brauche es eine große Reform, um das Unterhaltsrecht an die veränderten Familienverhältnisse anzupassen. Doch das sei schwieriger als die Quadratur des Kreises, ahnt Schürmann. „Denn letztlich reicht das Geld in Trennungsfamilien oft hinten und vorne nicht: weder für die Kinder, noch für die Unterhaltspflichtigen.“
Wie auch der ISUV setzt er deshalb seine Hoffnung in ein anderes Instrument: Die von der Ampel-Regierung geplante Kindergrundsicherung. Sie müsse als eigenes Einkommen des Kindes unangetastet bleiben: mit dem Kindergeld als Basisbetrag und aufstockenden Leistungen für bedürftige Familien bis zum Mindestbedarf des Kindes. „Bei getrennt lebenden Eltern kann die Einführung einer Kindergrundsicherung die Abhängigkeit von Unterhaltszahlungen vermeiden oder zumindest reduzieren“, so Schürmann. „Dies kann auch Trennungskonflikten entgegenwirken.“
Auch Norbert Rott wäre damit wohl geholfen. Demnächst sind seine drei Jungs wieder einige Wochen bei ihm, weil die Mutter in einer Kur ist. Dafür sei sie ihm auch dankbar, sagt er. Dass sie ihm in dieser Zeit Unterhalt und Kindergeld überlässt, glaubt Rott hingegen nicht. „Beim Geld hört der Spaß bekanntlich auf.“
V.